Dechant Picken ermuntert Christen: "Unsere Botschaft ist hochaktuell"

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn des Vortrags von Pfarrer Dr. Wolfgang Picken aus Bonn-Bad Godesberg herrschte am Freitagabend ein riesiges Gedränge im Großen Saal des Gerresheimer Stiftsgebäudes. Kurzerhand beschlossen die Veranstalter, Pastor Karl-Heinz Sülzenfuß und Barbara Krug, Vorsitzende der Bürgerstiftung Gerricus, den Vortrag in die Basilika St. Margareta zu verlegen. Doch selbst der große Kirchenraum reichte kaum aus. Dutzende Stühle mussten noch herbei geschafft werden, damit die weit mehr als 500 Zuhörer einen Sitzplatz fanden. Der Titel des Vortrags „Lass‘ mich bloß mit Kirche in Ruhe. Wie man heute noch missionieren kann“ hatte offenbar einen Nerv getroffen. Aktive Kirchgänger, Gelegenheits-Gläubige, Atheisten, Jüngere und Ältere, Menschen aus Düsseldorf und aus dem Kreis Heinsberg waren gekommen, um den charismatischen und mitreißenden Dechant aus Bad-Godesberg sprechen zu hören.

Zunächst zählte Pfarrer Picken in drastischen Worten auf, mit welchen Problemen die Kirche derzeit zu kämpfen hat: Die Zahl der Gottesdienstbesucher gehe immer mehr zurück, wohingegen das Durchschnittsalter der Gläubigen stetig steige. Hinzu käme ein enormer Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust („Man muss sich fast schämen am Arbeitsplatz zuzugeben, zur Kirche zu gehören“.). Neben dem Rückzug der Kirche aus der gesellschaftlichen Verantwortung nannte Pfarrer Picken auch wirtschaftliche Probleme.

Dann malte der Pfarrer aus Bonn-Bad Godesberg ein recht düsteres Bild unserer Gesellschaft auf. Es gebe ein „geistliches Vakuum in unserer Zeit“. Und: „Die Gesellschaft ist in Not.“ Deshalb brauche sie die Kirche. Doch diese kümmere sich nur um sich selbst. Unumwunden gab Picken zu: „Die Kirche hat Schwächen.“ Doch die ganze Gesellschaft habe Schwächen. Jeder lebe heute nach seiner Façon. Jesu Worte „Geben ist seliger als nehmen“ seien inzwischen völlig auf den Kopf gestellt. Es fehle an einer normgebenden Autorität, an einem „Global Player der Moral“. Als Beispiel nannte er die Präimplantationsdiagnostik, die hierzulande verboten, in Nachbarländern aber erlaubt sei. Auch die Weltwirtschaftskrise habe die Menschen so verunsichert, weil es keinen gemeinsamen moralischen Nenner mehr gebe. „Dabei sind wir als Kirche doch ein Netzwerk der Moral und der inneren Werte“, rief er den Zuhörern in der Basilika St. Margareta zu. Er forderte sie auf: „Seid nicht depressiv! Guckt, wo ihr gebraucht werdet!“

In vier Punkten machte der Theologe konkrete Handlungsvorschläge. Punkt eins: „Gebt den Menschen ihre Seele zurück!“ Viele Menschen hätten eine Sehnsucht nach Gott. Ihre Seele sei ausgetrocknet. Sie seien zum Beispiel überfordert mit dem Anspruch der heutigen Arbeitswelt nach Multitasking und ständigen Ortswechseln. „Die Kirche müsste der Lobbyist der Menschen sein“, so Picken. Stille und Heilung einer verletzten Seele – all das könne die Kirchen leisten. Außerdem appellierte er an die Vortragsbesucher: „Integrieren Sie Gott in Ihren Alltag. Ihre Seele braucht das.“ Doch die meisten seien „mehr im Internet als im Gespräch mit Gott“.

Pickens zweiter Punkt drehte sich um das Thema „Partnerschaft“. Heutzutage gingen 60 Prozent der Partnerschaften in die Brüche. Daraus rührten viele menschliche Verletzungen. Pfarrer Picken empfahl deshalb, einmal jährlich einen „Partnerschafts-Check-up“ zu machen. Um zu überprüfen, ob die Partnerschaft immer noch an erster Stelle stehe, und nicht der Job oder andere Verpflichtungen wichtiger geworden seien. Die Kirche müsse vor allem jungen Menschen dringend Angebote machen, über Sexualität zu reden, betonte Picken. „Denn Sexualität hat etwas mit Seele zu tun.“ Aus seinen Gesprächen mit Jugendlichen wisse er, dass viele eine innere Leere spürten. Sie betrachteten häufig Sex genauso wie Sport, also als etwas, was nichts mit Gefühlen zu tun habe. Über Verhütung werde zwar gesprochen, aber nicht über Treue, Verantwortung und die möglichen Verletzungen der Seele.

„Die Kirche kommt dem Staat zu Hilfe.“ Mit diesen Worten leitete Picken seinen dritten Punkt ein. Er bezeichnete die Kirche als „Deutschlands größten Dienstleister“, weil sie die meisten ehrenamtliche tätigen Menschen vereine. Im Sinne des wirtschaftlichen Begriffs vom „antizyklischen Denken“ rief er zu einem „Jetzt erst recht!“ und „Stellen wir uns an die Spitze der sozialen Bewegung!“ auf. Anstatt dass Christen über sich selbst jammerten, sollten sie sich engagieren, z.B. in einer kirchlichen Stiftung wie der Bürgerstiftung Gerricus. In einer individualisierten Gesellschaft, in der viele Menschen kaum noch Verwandte hätten, müsste sich die Kirche als „alternative Familie“ anbieten. Die Worte von „Brüdern und Schwestern“ und „den Armen und Kranken helfen“ müssten wieder ernst genommen werden.

Seinen vierten und letzten Punkt umriss der Pfarrer mit den Stichworten „Hoffnung“ und „Auferstehung“. „Wir glauben nicht an den Tod und auch nicht an den Kollaps der Gesellschaft.“ Christen müssten deshalb den Mut haben, aufzustehen, vorauszugehen und Zukunftshoffnung auszustrahlen. „Unsere Botschaft ist hochaktuell“, sagte Picken und brachte das biblische Gebot „Du sollst teilen“ mit dem G8-Gipfel im Juni in Verbindung.

Pickens Fazit lautete: „Wir müssen an der Basis anfangen, um die Gesellschaft zu verändern.“ Schließlich „wollen wir uns nicht gesund schrumpfen, sondern wir wollen gesund wachsen!“

Insgesamt brachte der Abend rund 2.400 Euro Spenden für die Bürgerstiftung Gerricus ein. Sie werden zu 100 Prozent zur Finanzierung eines Jugendreferenten eingesetzt.

Angelika Fröhling, Bürgerstiftung Gerricus
Foto: M. Pietrek

Zurück